#16 Der Wolf und die Königin

Es war einmal in einer kalten Winternacht. Auf der Königin der Berge. Ein Hund hatte unschöne Magenprobleme und musste mitten in der tiefen, dunkeln, kalten Nacht subito nach draussen. In etwa so oder so ähnlich begannen die Märchen, mit denen ich als kleine Madame Alltag aufgewachsen bin. Der Unterschied zu damals ist, dass dies kein Märchen, sondern eine reale Geschichte aus dem ‘real life’ von Madame Alltag ist. Also weiter im Text. Der arme Hund hatte wirklich fiese Magenprobleme und sich darum nervös bemerkbar gemacht. Die tapfere Madame Alltag hat sich sogleich Mütze und Winterjacke übers Pyjama gestreift und ist mit Hund, Hundebeutel aber ohne Halsband & Leine nach draussen geeilt. In den Bergen, so dachte ich mir, ist mitten in der Nacht kein Halsband oder Leine notwendig. Hier gibt’s weder Autos noch Fahrräder, die den Hund und umgekehrt gefährden könnten. Und der Hund ist so gut erzogen, er gehorcht aufs Wort. Meistens jedenfalls, ausser er riecht eine Bratwurst oder eine Hundedame, dann ist es ratsam die Worte eindringlich zu wiederholen. Wir haben es also glückerweise ohne irgendwelche ‘Unfälle’ nach draussen geschafft. Der Hund hat sogleich, ein paar Meter entfernt vom Haus, sein Geschäft zwei, drei Mal verrichtet. Ich mit Taschenlampe und Hundebeutel hinterher, Ordnung muss ja schliesslich sein. Egal ob in der Stadt oder den Bergen. Jetzt wo der Hund wieder einigermassen entspannt war und ich schon draussen in der eiskalten Sternennacht, wollten wir gemeinsam noch einen kleinen Spaziergang wagen um die Hundebeutel korrekt zu entsorgen. So haben wir uns gemeinsam auf den Weg gemacht.

 

Als wir gemeinsam den Weg hinauf spazierten nahm ich aus meinem linken Augenwinkel eine Bewegung wahr. Links von mir führt ein kleiner Weg, beleuchtet von einer Laterne den Berg hinunter. Ich blieb stehen. An dieser Stelle folgt jetzt entweder eine dramatische Pause oder noch dramatischere Musik. Mein Herz pochte schneller. Wo war der Hund? Er war noch immer mit schnüffeln auf der Wiese beschäftigt und hatte diese Bewegung noch nicht registriert. Zum Glück, muss ich sagen. Denn was ich jetzt sah, verschlug mir glatt den Atem. Nicht weit weg von mir, den Weg unterhalb bei der Laterne, starrten mich zwei sehr grosse Vierbeiner mit buschigem Schwanz an. Wir starrten uns gegenseitig erschrocken und regungslos durch die Dunkelheit an. Mein Herz schlug plötzlich sehr schnell und mein Kopf versuchte die Bilder einzuordnen. Füchse kenne ich aus der Stadt, für das waren die Vierbeiner viel zu gross, Hirsche, Rehe oder Gämse waren es offensichtlich nicht. Dachs, Haas, Murmeli alle diese Tiere hatte ich hier schon gesehen, kamen aber ebenfalls nicht in Frage. Es lieb nur noch, ihr wisst schon - der Wolf. Doch gab es hier denn überhaupt Wölfe? Mein Herz pochte wie wild. Ich drehte um und ohne den Hundebeutel zu entsorgen schnappte ich mir den Hund, welchem ich ja weder Halsband noch Leine verpasst hatte und der zum Glück noch immer sehr mit schnüffeln beschäftig war und eilte zum Haus. Zurück in die Wärme, zurück hinter die sichere Tür. Puuh. Ich war erledigt und gleichzeitig vollgepumpt mit Adrenalin. Wir Städter sind uns ja einiges gewohnt aber Wildtiere in dieser Dimension - eher nicht.

 

In der Wohnung startete ich eine google-Suche. Leider war diese ergebnislos. Der Wolf als Wildtier war in dieser Region wohl nicht offiziell ‘registriert’. Aber was hatte ich dann gesehen? Es wollte mir nicht in meinen Kopf. Nur etwa eine Stunde später wurde der Hund erneut nervös, er musste wohl nochmals nach draussen. Sein Magen rumorte noch immer. Tatsächlich traute ich mich aber nicht mehr alleine nach draussen, in die Wildnis, wie ich jetzt ja wusste. Also weckte ich den schlafenden, nichts ahnenden Freund. Aus dem Tiefschlaf aufgeschreckt sah er den nervösen Hund und die etwas verwirrte Madame Alltag ungläubig an. Kopfschüttelnd und noch schlaftrunken hörte er sich meine Story an. Nun waren wir also bereits zu dritt mitten in der kalten Winternacht, der Hund jetzt mit Halsband und Leine, draussen. Wieder verrichtete er schnell sein Geschäft, welches ich erneut mit Taschenlampe und Hundebeutel pflichtbewusst beseitigte. Zu dritt trauten wir uns nun auf den kleinen Spaziergang, den ich eigentlich schon vor 1.5 Stunden machen wollte. Alles blieb ruhig. Ich atmete durch. Doch plötzlich, was war da vor uns, hat sich an der gleichen Stelle wie davor, beim Weg unter der Laterne etwa wieder etwas beweg? Ich blieb wie erstarrt stehen. Jetzt sahen wir es alle drei. Sehr deutlich, sehr gross und irgendwie magisch erschaudernd. Dort standen wieder diese zwei sehr grossen Vierbeiner und starrten uns regungslos durch die Nacht an. Ich flüsterte zu meinem Freund: ‘du siehst sie jetzt auch, oder?’. Und sein Kopf machte die gleichen Gedankensprünge wie meiner zuvor: ‘die sind ja riesig, viel zu gross für Füchse..!?’. Ich war einerseits erleichtert, dass meine Beobachtungen nun bestätigt wurden, andererseits beunruhigt, dass ich dieses Vergnügen gleich zweimal in einer Nacht hatte. Alle drei sind wir dann schnellen Schrittes wieder zurück in die warme Wohnung ‘geflüchtet’. Nach ein paar Stunden unruhigem Schlaf war am nächsten Tag nichts mehr von den nächtlichen Gästen zu sehen. Auch die Nächte danach sah ich oft aus dem Fenster aber da war nichts, nie mehr.

 

Das Thema lies mich jedoch nicht los. Und so schrieb ich der zuständigen Person der Region eine Mail. Darin habe ich von meinen Beobachtungen erzählt und meine Fragen angebracht. Leider konnte nie definitiv bestätigt werden, wem ich in dieser Nacht begegnet bin. Kurz danach wurde jedoch ganz in der Nähe ein Wolf von einem Zug erfasst. Ort und Zeitraum stimmten mit meiner Begegnung überein.

 

Mit dem Verantwortlichen der Region bin ich per Mail in Kontakt geblieben. Er hat mir kürzlich geschrieben: ‘... sind Sie noch immer verängstigt deswegen...?’. Da musste ich lachen und mein Umfeld mit mir. Verängstigt bin ich nicht. Aber die Art und Weise wie ich nun in der Nacht das Haus verlasse hat sich definitiv verändert. Ich bin automatisch wachsamer, der Adrenalinspiegel steigt und das Herz pocht etwas schneller. Dieses Erlebnis hat sich in meinem Gedächtnis eingebrannt, es war irgendwie intensiv, magisch, faszinierend aber auch beängstigend. Ich bleibe auf jeden Fall an der Sache dran und werde meine weiteren Beobachtungen gerne mit Euch teilen.

 

Furchtlose Grüsse

Deine Madame Alltag

 

Zürich, geschrieben im Januar 2023